Der zunehmende Leistungsdruck macht auch vor Schulen und Kindergärten nicht halt – immer häufiger leiden Kinder und Jugendliche an Erschöpfungsdepressionen.
Marcus Neuzerling, M.Sc. erklärt, wie es so weit kommen kann, nennt die häufigsten Anzeichen. Und sagt, was Eltern tun können.
Immer häufiger sind bereits Kinder von einer Erschöpfungsdepression (im Volksmund auch als Burnout bekannt) betroffen.
Marcus Neuzerling, M.Sc. erklärt Ihnen, warum diese Entwicklung stattfindet. Vorweg die wichtigsten Punkte in der Übersicht:
- Die wichtigsten Anzeichen eines Burnouts bei Kindern sind: Freudlosigkeit, Rückzug, Leistungseinbruch, plötzliche Schlafprobleme, häufiges Klagen über Kopf- oder Bauchweh, Aggressivität, Gereiztheit, Konzentrationsstörungen, Suizidgedanken.
- Vorsicht, Rückfall! Braucht ein Kind Medikamente gegen die Depression, darf man sie auf keinen Fall zu früh absetzen. Das Rückfallrisiko wäre zu gross.
- Bewegung ist der Schlüssel zum mentalen Ausgleich: Stubenhocker lockt man mit einem Schrittzähler aus der Reserve.
- 10 000 Schritte sollten es täglich sein.
- Kritisches Alter: Mit dem Beginn der Pubertät nimmt das Risiko für Depressionen drastisch zu.
Marcus Neuzerling, gibt es tatsächlich schon Kindergartenkinder, die an einem Burnout leiden?
Ja. Zwar ist Burnout keine medizinische Diagnose, doch zeigt sich bereits in diesem Alter, dass manche mit den Anforderungen in der Schule, im Sportverein oder zu Hause überfordert sind. Und die Kinder teilen auch mit, dass sie nicht mehr können.
Warum?
Die Ansprüche in der Gesellschaft sind gestiegen. Man muss mehr in weniger Zeit produzieren, das macht vor dem Kindergarten nicht halt. Es gilt, motorische und intellektuelle Ziele zu erreichen, früher konnten die Kinder dort einfach spielen.
Und das führt zu Burnout?
Nein, die hohen Ansprüche und der Druck sind nur ein Aspekt des Problems. Bei einem Burnout handelt es sich häufig um den Beginn einer depressiven Erkrankung. Oft baut sich dieser Zustand über Jahre hinweg auf. Betroffene haben das Gefühl, zu nichts mehr fähig zu sein. Nicht alle kommen zum Endpunkt, wo nichts mehr geht. Je mehr die Belastungsfaktoren bekannt sind, desto schneller kann man eingreifen.
Interview
Marcus Neuzerling, M.Sc.
Wie sehen diese Belastungsfaktoren aus?
Sie kommen in der Schule, in der Familie und in der Freizeit vor. Das kann der Prüfungsdruck sein, Erwartungen seitens der Eltern oder sportliche Ziele, die ein Kind sich setzt.
Aber Ehrgeiz ist doch etwas Gutes?
Klar, es kommt aber darauf an, wie stabil die Person ist und ob sie perfektionistisch veranlagt ist. Ich kenne viele Kinder, die in der Freizeit ambitiös Sport betreiben. Auch dort ist der Leistungsdruck enorm gestiegen – oft müssen die Kinder sogar eine Prüfung ablegen, damit sie in einen Klub aufgenommen werden. Das ist doch absurd.
Sie sagen, die Persönlichkeit spielt auch eine Rolle.
Ja, deshalb sind Mädchen auch öfter von Depressionen betroffen. Sie versuchen eher zu genügen als Jungs. Kommt zu diesen Charaktereigenschaften noch ein Handicap wie ADHS, eine Rechenschwäche oder Legasthenie, muss das Kind sich unheimlich anstrengen, um zu genügen.
Welcher Einfluss hat das Alter?
Es gibt zwei kritische Zeitpunkte: das Ende der Primarschule und das Ende der Oberstufe. Diese Phasen des Umbruchs sind einschneidende Erlebnisse, die mit viel Unsicherheit einhergehen.
Sie sagen, die Digitalisierung kann auch ein Belastungsfaktor sein. Warum?
Es gibt zunehmend Hinweise, dass exzessiver Mediengebrauch Depressionen begünstigt. Die ständige Erreichbarkeit und der Druck, in der virtuellen Welt zu genügen, überfordern viele Jugendliche.
Können Sie das genauer erklären?
Früher musste man sich auf dem Pausenplatz vor den anderen behaupten. Heute sind die Kinder dank dem Smartphone immer miteinander verbunden, 24 Stunden lang. Wird man gedisst, ist es nicht nur von einer kleinen Gruppe, sondern gleich von ganzen Klassen. Das sind total andere Dimensionen und beeinflusst die Entwicklung.
Dann soll man Kindern das Smartphone verbieten?
Wichtig ist, dass die Eltern sich mit dem Thema Medienumgang auseinandersetzen und das mit ihren Kindern besprechen.
Haben Sie Tipps?
Klare Regeln im Umgang mit dem Smartphone. Das kann zum Beispiel sein, dass das Handy über Nacht nicht im Kinderzimmer bleibt. Dazu empfehle ich, wieder mehr nach draussen zu gehen. Mit dem Übertritt in die Oberstufe ziehen sich viele Teenager in ihre eigenen vier Wände zurück. Das ist problematisch und kann durch das Handy noch begünstigt werden.
Sie sagen, dass sich zu diesem Zeitpunkt auch viele Eltern zurückziehen. Wie meinen Sie das?
Sie merken, dass der Einfluss auf ihre Kinder schwindet, und mischen sich nicht mehr ein, das ist ein Fehler. Sie scheuen den Konflikt.
Warum sollen sich Eltern einmischen?
Die Jugendlichen sind ohne Grenzen überfordert. Besser wäre es, sie zu begleiten und ihnen schrittweise mehr Freiheiten zu lassen. Ein Patentrezept habe ich auch nicht. Es braucht den ständigen Dialog.null
Wie können Eltern sonst noch helfen?
Indem sie mit ihren Kindern Zeit verbringen: zusammen kochen, sich draussen bewegen, Probleme besprechen. Wichtig ist auch, dass Kinder genügend Zeit zur freien Gestaltung haben – selbstbestimmt und ohne Leistungsdruck!