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Ein Burnout-Experte erklärt, wie Unternehmen Mitarbeiter vor psychischen Erkrankungen schützen können – und wann Betroffene das Gespräch mit dem Chef suchen sollten.

Herr Neuzerling, vergangenes Jahr gaben mehr als 60 Prozent der deutschen Arbeitnehmer an, Angst vor einem Burnout zu haben. Sie sind Experte für stressbedingte psychische Erkrankungen. Was beobachten Sie: Macht Arbeit uns zunehmend krank?

Nicht zwangsläufig, aber arbeitsbedingter Stress kann auf Dauer starke körperliche und emotionale Reaktionen hervorrufen. Wir alle reagieren auf negative Aspekte unseres Jobs: Das können Kollegen sein, die uns nicht wohlgesonnen sind, der cholerische Chef, Über-, aber auch Unterforderung.

Psychische Erkrankungen betreffen nicht nur einige Wenige, sondern einen großen Teil der Gesellschaft – und damit auch zahlreiche Arbeitnehmer. Depressionen sitzen in Unternehmen mit am Schreibtisch.

Wenn Menschen das Gefühl haben, sie arbeiten nur ab, macht das ihre Psyche krank.

Marcus Neuzerling, psychologischer Berater

Das klingt ganz schön düster.
Es ist aber die Realität. Unternehmen und ihre Führungskräfte sind heute mehr denn je gefragt, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der sich Mitarbeitende wertgeschätzt und gefördert fühlen. Und das nicht nur zu besonderen Anlässen, sondern täglich. Mitarbeitergesundheit ist ein Erfolgsfaktor, nicht nur ein gutes Gehalt. Wir hätten weniger Fachkräftemangel, wenn wir uns mehr um die Menschen kümmern würden. Wenn Menschen das Gefühl haben, sie arbeiten nur ab, macht das ihre Psyche krank.

Der Gesprächspartner

Marcus Neuzerling ist Burnout-Therapeut und psychologischer Berater. In seiner Berliner Praxis unterstützt er Menschen, die von Arbeitsplatzkonflikten, Mobbing, Erschöpfungs- und Angstzuständen betroffen sind. Zu seinem Konzept gehört unter anderem, sich selbst kennenzulernen, anzunehmen und den inneren Kritiker zu besiegen.

Wie lässt sich das konkret ändern? Oft ist eine negative Arbeitsatmosphäre das Resultat von jahrelang gewachsenen Strukturen.
Entscheidend ist, die Meinungen und Ideen der Mitarbeitenden anzuhören und wertzuschätzen. Regelmäßige Eins-zu-eins-Gespräche bieten sichere Räume für einen offenen Austausch und verbessern die Feedbackkultur. Wichtig ist hier, dass die Führungskräfte aktiv werden und Termine ansetzen.

Der Unternehmenserfolg hängt auch davon ab, ob die Mitarbeitenden sich gefördert fühlen. Dazu gehören flexible Arbeitszeiten ebenso wie eine gute Kantine und Weiterbildungsprogramme.

Marcus Neuzerling, psychologischer Berater

 

Aber auch abseits solcher Formate sollten regelmäßig positive Ergebnisse kommuniziert werden. Im Arbeitsalltag wird oft nur besprochen, was schlecht läuft; das ist nicht gerade motivierend. Und: Schaffen Sie Entwicklungsmöglichkeiten. Der langfristige Unternehmenserfolg hängt auch davon ab, ob die Mitarbeitenden sich ausreichend gefördert fühlen. Dazu gehören flexible Arbeitszeiten ebenso wie eine gute Kantine und Weiterbildungsprogramme.

Nicht selten hakt es bei den Führungskräften. 2022 stellten zwei repräsentative Studien unabhängig voneinander fest, dass sich fast die Hälfte der unter 45-Jährigen nicht ausreichend durch ihre Vorgesetzten geschätzt fühlt. 14 Prozent aller Arbeitnehmer dachten deshalb sogar über einen Jobwechsel nach.
Ein wesentlicher Faktor für das psychische Wohlbefinden ist ganz klar das Auftreten der Vorgesetzten. Umso wichtiger ist es, dass Führungskräfte stärker für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden sensibilisiert werden. Und dass sie lernen, welche Rolle ihr Führungshandeln spielt. Menschen möchten vor allem gesehen werden – auch in ihrem Job.

Führen muss man lernen und pflegen, das hat nichts mit der fachlichen Arbeit im Betrieb zu tun. Es bedarf eine separate Ausbildung über einen längeren Zeitraum zuzüglich Praxiserfahrung.

Würden Sie für Ihren Job eher in eine neue Stadt ziehen oder pendeln?

Viele Arbeitgeber werben in Stellenausschreibungen mit einer guten Work-Life-Balance. Was halten Sie davon?

Work-Life-Balance ist in der heutigen Gesellschaft zum Modebegriff geworden. Der Ausgleich zwischen privatem Leben und Berufswelt ist ein wichtiges Thema, aber leider wird viel darüber gesprochen und wenig konkret umgesetzt. Unternehmen müssen sich stärker und praktischer damit auseinandersetzen. Gleichzeitig sind Arbeitnehmer für sich selbst verantwortlich und müssen lernen, auch mal Nein zu sagen. Wer nie Nein sagt, wird schneller krank.

 

„Ein wesentlicher Faktor für das psychische Wohlbefinden ist ganz klar das Auftreten der Vorgesetzten“, sagt Burnout-Experte Marcus Neuzerling.

© imago images/McPHOTO/Erwin Wodicka via www.imago-images.de

 

Wer Nein sagt, hat möglicherweise das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Und damit offenzulegen, dass er oder sie überfordert ist.
Dafür sollte man sich nicht schämen. Gesundheit ist immer noch das höchste Gut. Glücklicherweise wird in unserer Gesellschaft auch immer offener über psychische Gesundheit am Arbeitsplatz gesprochen. Viele Arbeitgeber fördern proaktiv die Gesundheit und Resilienz ihrer Mitarbeitenden. Es ist gut und wichtig, über psychische Erkrankungen, ihre Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten Bescheid zu wissen. Das kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen.

Aber ist es sinnvoll, mit dem Arbeitgeber offen über psychische Probleme zu sprechen?
Die Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Die meisten verbinden mit einer solchen Offenheit noch immer eine drohende Kündigung, das Nichtbestehen der Probezeit oder auch ein absolutes Schamgefühl. Dennoch kann es wichtig und auch richtig sein, mit dem Arbeitgeber über eine psychische Erkrankung zu sprechen. Auch, um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen.

 

Ich empfehle einen ruhigen Moment, in dem der Mitarbeiter genügend Zeit hat, das Anliegen gründlich zu besprechen. Vermieden werden sollten Zeiten, in denen der Vorgesetzte gestresst oder überlastet ist, da dies die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er nicht aufgeschlossen reagiert.

Sie bieten in Ihrer Praxis auch Beratungsgespräche an, die genau auf solche Szenarien vorbereiten. Wie genau läuft das ab?
Das ist immer abhängig von dem jeweiligen Betroffenen. Wir betrachten in den (arbeits-) psychologischen Einzelsitzungen jede Person ganz individuell und überlegen entsprechend immer eine neue Strategie. Dabei berücksichtigen wir auch Aspekte wie die Betriebszugehörigkeit, den Arbeitsvertrag, die psychische Verfassung und Diagnose des Patienten. Unter Umständen nehmen wir auch direkt eine juristische und ärztliche Beratung dazu, damit der Patient bestmöglich betreut und behandelt wird.

Gehen Sie sparsamer mit dem Wort Ja um und trauen Sie sich, Nein zu sagen.

Marcus Neuzerling, psychologischer Berater

 

Und was, wenn es dem Mitarbeiter bereits schlecht geht? Was kann – und sollte – der Arbeitgeber dann machen?
Ich bin ein großer Fan davon, dass Mitarbeiter die Möglichkeit bekommen sollten, anonym Einzelsitzungen bei einem Psychologen, Berater oder Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen, und die Kosten übernimmt der Arbeitgeber. Manchmal bewirken schon wenige Stunden ein Wunder. Das kann unter anderem verhindern, dass sich der Mitarbeiter sofort krankmeldet und länger ausfällt.

Das alles setzt voraus, dass das Unternehmen sich für das Wohlbefinden seiner Mitarbeitenden engagiert. Was kann ich selbst tun, um mich vor stressbedingten Erkrankungen zu schützen?
Mir begegnen in meiner Praxis immer wieder Menschen, die einen ausgesprochen negativen Blick auf ihren Beruf und die Arbeitswelt im Allgemeinen haben. Diese negativen Gedankenmuster gilt es, zu durchbrechen. Das ist die Grundvoraussetzung, um positive Veränderungen herbeizuführen. Im nächsten Schritt können Sie sich mit Ihrer Gesundheit, individuellen Prioritäten und realistischen Zielen auseinandersetzen.

Routinen können helfen, Pausen einzuhalten und den Fokus auf das Ich zu behalten. Gehen Sie sparsamer mit dem Wort Ja um und trauen Sie sich, Nein zu sagen. Vor allem aber: Nehmen Sie den Druck raus. Geben Sie sich Zeit, herauszufinden, was Ihnen guttut. Ruhe und Zeit sind immer noch die besten Mittel gegen Stress.

Statt Gratis-Kaffee sollte es also demnächst Therapie-Gutscheine geben?

Tatsächlich machen wir genau das bereits in meiner Praxis. Wir arbeiten mit verschiedenen Unternehmen zusammen, die bei uns Voucher für die arbeitspsychologische Beratung erhalten. Einige Firmen legen bei Neueinstellungen sogar gleich drei bis sechs solcher Gutscheine zum Vertrag dazu. Eine sensationelle Idee, die sich langfristig nur positiv auswirken kann.

 

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